Harley Davidson Livewire - Ein Testbericht von Peter Simon

Mittwoch, 8. Juli, 10 Uhr , Harley Davidson Solothurn Arni in Hessigkofen.

Nach rund 80km Fahrt mit meinem Johammer komme ich pünktlich in Hessigkofen an. Jean-Pierre ist auch schon da, Rolf ist noch unterwegs. Hansueli von Harley Davidson Arni AG begrüsst uns herzlich und mit grosser Freude. Doch bevor wir die neue Wundermaschine aus der Zukunft zu sehen bekommen gibt es einen feinen Kaffee und Gipfeli.

Harley Davidson baut Elektromotorräder?

Für uns E-Motorradfahrer klingt das nur logisch, die Zeit bleibt ja nicht stehen, auch für Motorradbauer nicht. Wir wissen elektrisch Motorradfahren ist unvergleichlich, es ist schlicht anders und ist der Umgang mal vertraut, dann gibt es kein zurück!

Wer Vibrationen, Ansauggeräusche, das Ballern aus dem Auspuff, die Hitze vom Motor und Gerüche von heissem Öl, Benzindämpfe und Abgase sucht, ist beim E-Motorrad definitiv falsch.
Wer hingegen das elegante Dahingleiten in engen Kurven, die Gerüche und Klänge von Landschaften, wie Wälder oder Gewässer oder gar Vogelgezwitscher sucht, dabei jederzeit jeden und alles überholen und hinter sich lassen möchte, der soll mal ein Elektromotorrad ausprobieren. Selbst beim Fahren in einer Gruppe von Elektromotorrädern besticht das pure Fahrvergnügen ohne stinkenden Abgasen der Vorausfahrenden, purer Genuss!

Rolf, Jean-Pierre und ich sind eingeschossene E-Fahrer und fahren eher die untermotorisierte Johammer (Klasse A1). Auf Einladung von Hansueli von Harley Davidson Arni AG trafen wir an jenem Mittwochvormittag in Hessigkofen ein.
Wir dürfen das erste E-Modell von Harley Davidson die Livewire einen ganzen Tag lang testen.
Da wir alle Vor- und Nachteile der E-Mobilität kennen und wissen worauf es bei einem E-Motorrad ankommt, haben wir natürlich sehr hohe Erwartungen an die Livewire. Wie wird sich die Livewire schlagen?

Design

Schauen wir zunächst das Design an, denn auch eine elektrische Harley soll ja auch wie eine Harley aussehen.
Mit der Livewire möchte man auch ein jüngeres Klientel abholen, die weniger den Umgang mit Schraubenzieher und Gabelschlüssel dafür umso mehr mit Smartphones und Apps vertraut ist.
Ich bin der Meinung Harley schafft es tatsächlich mit der Livewire ein eigenständiges Design zu präsentieren, welches eindrücklich die Symbiose aus gewohnter Ästhetik mit der neuen Technologie darstellt. Nicht auf den ersten Blick aber doch etwas anders.
Zuunterst haben wir den Elektromotor und Getriebeblock, im Rahmen gut integriert der grosse Akkublock. Die ganze Antriebseinheit mit Batterie ist so im Motorrad eingebaut, dass die Livewire gewohnt und selbstverständlich wie ein klassisches Motorrad daher kommt.
Auch sieht die Livewire im Sportsterlook klassisch amerikanisch aus, etwas nackt, sportlich und einladend für eine rassige Kaffeefahrt. Das sportliche Aussehen erinnert etwas an Buell aber gerade die Lampenverschalung und der “Tank“ sehen eindeutig typisch und unverkennbar nach Harley aus. Die Livewire hat waschechte Harley-Gene!

Erste Kontaktaufnahme

Ja doch, man sitzt durchaus etwas sportlich, leicht nach Vorne geneigt aber nicht unbequem im Sattel.
Ich bin 182cm gross. Wer etwas kleiner gewachsen und kürzere Beine hat, könnte mit der Sattelhöhe hadern. Der Sattel kann konstruktionsbedingt kaum abgeändert werden, da bleibt nur noch das Fahrwerk etwas niedriger einzustellen.
Die linke Seite wirkt etwas nackt ohne Kupplungs- und Gangwahlhebel. Denn das braucht es nicht mehr. Vorderrad- und Hinterradbremsen werden wie gewohnt bedient. Bedienung für Licht und Blinker sind typisch Harley. Ein Zündschloss braucht es nicht mehr. Den Schlüssel im Hosensack aber schon.
Der Gasgriff heisst nun Stromgeber und lässt sich auch nach Vorne drehen. Kann man mit der Livewire etwa rückwärts fahren?

Das Display ist mehr als nur ein Tacho. Es informiert je nach Einstellung über Geschwindigkeit, gefahrene Kilometern, Akkukapazität in Prozent, kalkulierte Restreichweite, Fahrmodus aber auch die per App gesteuerte Navigation die nächste Abzweigung. Leider noch nicht, wie man zur nächsten Ladestation kommt. Die Voraussetzungen sind aber schon gegeben, dass es einfach erscheint die Software so anzupassen, dass bei niedrigen Akkustand die nächste Schnellladestation auf der eingegebenen Fahrroute automatisch angezeigen wird.
Und damit wären wir beim Aufladen der Batterie.

Batterie aufladen

Am bequemsten ist es über Nacht an einer Typ2 Wallbox oder per Notladekabel an einer gewöhnlichen T13 Haushaltssteckdose mit 10A-Absicherung aufzuladen. Das dauert mehrere Stunden. Für unterwegs geht es an einer CCS Gleichstromladestation wesentlich schneller. Das reicht für eine gemütliche Kaffeepause, einem Schnellimbiss oder ein feines Mittagessen im Restaurant.
Übrigens das Notladekabel ist gut versteckt immer dabei. Unter dem Soziussitz befindet sich extra für das Notladekabel ein abschliessbares Fach. Clever gelöst!
Bei CCS Ladestationen braucht es kein Kabel, das befindet sich an der Station fest installiert. An Wechselstromladestationen Typ2 bräuchte mann meistens ein Typ2-Ladekabel, das man in einem Rucksack mitschleppen müsste. Gut, dass die meisten Apps für das Auffinden von Ladestationen angeben, ob das Ladekabel schon fix an der Station montiert ist. So kann man auch gut auf das Mitnehmen des Ladekabels verzichten. Die Livewire steht hier also sehr gut da, für spontane Tagestouren ohne zwingende Mitnahme von Ladekabeln und Adaptern. Sehr gut!

So, nun wollen wir aber los!

Testfahrt, Rekuperation

Helm auf, Handschuhe an und den Bock aktivieren. Automatisch steht der Fahrmodus auf Eco. Aber man kann auch während der Fahrt den Fahrmodus ändern. Es gibt mehrere fix voreingestellte Fahrstufen, wie Normal, Autobahn, Sport, Eco und ganz wichtig die Einstellung bei nasser Fahrbahn. Aber man kann auch eigene Fahrstufen nach belieben programmieren, ganz toll gelöst, bravo Harley!
Die Restreichweite wird je nach eingestellten Fahrmodus neu berechnet. Bei Sport ist die Reichweite natürlich weniger. Wird es knapp, dann stellt man auf Eco um und versucht auch zusätzlich mit defensiver Fahrweise Strom zu sparen. Dank stärkerer Rekuperation im Ecomodus kann doch einiges an Strom in den Fahrakku zurück gewonnen werden.
Für den Anfang geht es nun in der „schwachen“ Fahrmodus los, denn zuerst sollte man die Maschine kennen lernen, bevor man die ganze Power zu spüren bekommt. Rolf und Jean-Pierre begleiten mich mit ihren Johammer. Wir steuern in Richtung Chasseral.
Aha, ganz schön lebendig die Livewire beim Manövrieren. Stromgeber nach Vorne… es passiert nichts. Schade doch kein Rückwärtsgang. Ah vielleicht kann man so die Rekuperationsstärke beinflussen? Anstelle bremsen Stromgriff nach Vorne drehen?

So die ersten Meter durch die schöne Landschaft und Dörfer nach Grenchen sind gefahren. Cool, die Livewire und ich sind uns sofort vertraut. Ich sitze gut im Sattel und das Handling ist ausgesprochen gut. Ich fühle mich sehr wohl auf der Livewire. Die Rekuperationsstärke ist gekoppelt mit dem eingestellten Fahrmodus. Geht man vom „Gas“ wirkt die Rekuperation wie die gewohnte Motorbremse bei einem Verbrennermotor. Im Eco-Modus ist die Rekupertion viel stärker, man braucht bei vorausschauender Fahrweise die Bremsen eigentlich nicht mehr. Im Autobahnmodus ist die Rekuperation kaum spürbar und das ist richtig so, nicht dass durch zu starke Bremswirkung jemand hinter einem auffährt! Wie bei allen E-Fahrzeugen leuchten bei Rekuperation die Bremslichter auf.

Jetzt mal testen, ob ich die Rekuperation mit dem Stromgeber nach Vorne beeinflussen kann. Nein, es passiert nichts. Schade!

Diskussion unter E-Motorradfahrern

Unterdessen sind wir auf dem Chasseral angekommen. Beim Mittagessen unterhalten wir uns über die Livewire und unsere Eindrücke, denn auch Rolf und Jean-Pierre sind zwischendurch die Livewire gefahren. Wir sind uns einig. Harley hat alles richtig gemacht. Respekt! Harley ist der erste traditionelle Motorhadhersteller, der es gewagt hat ein Elektromotorrad auf den Markt zu bringen. Es hat zwar insgesamt 6 Jahre gedauert aber dafür kann sich das Ergebnis sehen lassen. Die Livewire ist das perfekte Elektromotorrad für heute und lässt uns vermuten, wo die Reise in Zukunft hingehen wird.
Aber warum passiert nichts beim Stromgriff nach Vorne drehen?
Jean-Pierre hat da eine Vermutung. Eigentlich sollte das so von Harley gedacht sein, dass man, wie beim Johammer, die Rekuperationsstärke mit dem Stromgeber beeinflusst. Denn das finden wir Johammerfahrer ja super cool. Doch es gibt da anscheinend offene Fragen betreffend Patente, die bei der insolventen E-Rollerhersteller Vetrix liegen. So spekulieren wir, ob Harley bald auch hier die beste Lösung für die Rekuperation präsentieren wird, sobald die juristische Situation geklärt ist. Die Hardware ist schon einmal dazu vorbereitet!

Ausserdem stellen wir fest, dass es heute zwei Konzepte von E-Motorräder gibt. Und das hängt von der Art der Schnellladestandards ab.
Klassisch, aus der Entwicklung von E-Fahrzeugen heraus, ist das Schnellladen mit Drehstrom, also dem dreiphasigen Wechselstrom. Da wird jede Industriesteckdose (T15, T25, CEE16, CEE32) aber auch Typ2 Ladestation zur Schnelladestation für ein Motorrad.
Das bedingt aber, dass ein Drehstromladegerät verbaut wurde. Und die Unterbringung des Ladegerätes ist bei einem Motorrad eine Herausforderung aber auch sehr kostspielig.
Der Vorteil, man kann auch bei fehlender Ladeinfrastruktur überall schnell nachladen, sei es auf einem Bauernhof, auf einer Baustelle oder notfallmässig bei McDonalds an der Müllpresse.

Wie Energica verfolgt Harley das zweite Konzept der Schnellladung. Das zeitgemässe Schnellladen mit Gleichstrom per CCS, genauer dem europäischen Standard CCS2. Somit kann die Livewire an alle Schnellladestationen geladen werden ohne ein Ladekabel mitnehmen zu müssen.
Der Vorteil liegt hier in der Sicherheit beim Laden und dem Wegfall eines schweren und platzraubendes Ladegerätes im Motorrad. Der Nachteil liegt noch im Ausbau des Schnellladenetzes an den schönsten Motorradstrecken abseits von Hauptstrassen.
Da sind aber die Motorradverbände in Kooperation mit Motorradherstellern gefragt, die sich jedoch dieser Aufgabenstellung noch gar nicht bewusst sind.
Doch braucht es denn für eine Tagestour überhaupt eine Schnellladung? Das hängt natürlich von der Reichweite ab. Bis jetzt hat sich die Livewire gut geschlagen und verspricht mit einer Batterieladung lange durchhalten zu können. Das werde ich am Nachmittag herausfinden.
Nach dem Mittagessen verabschiedet sich Rolf und fährt nach Hause ins Wallis. Jean-Pierre begleitet mich bis Nods, ab dort verlässt auch er mich. Der Schnellladeversuch von Vormittag hat ja nicht geklappt aber vielleicht funktioniert es an der Ladestation bei Lidl in Grenchen? Die Restreichweite sollte noch locker bis nach Hessigkofen genügen. Doch es kommt anders. Die eine Strecke ist wegen Bauarbeiten gesperrt, so habe ich den einen oder anderen Ausweg gesucht. Die Restreichweite wird immer weniger. Ok, nun heisst es Eco Modus aktivieren und Strom sparen, denn irgendwie habe ich ein ungutes Gefühl in der Bauchgegend, dass die Station bei Lidl auch nicht funktionieren könnte oder aber nach Ladenschluss der Strom abgestellt wird. Es wird spannend, besonders als ich mich plötzlich auf eine längere Einbahnstrecke Richtung Delsberg befinde. Eindeutig die falsche Richtung. Ok, ok, nur keine Panik. Das Handy zücken und mal schauen, wie weit es bis Hessigkofen noch ist. Gut, jetzt kein Verfahren mehr erlaubt, so sollte ich mit 7km Restreichweite auch ohne Nachladen bis zum Händler schaffen. Allerdings haben die jetzt schon Feierabend. Ein Liegenbleiben wäre also oberpeinlich! Endlich bin ich auf der mir bekannten Strecke nach Grenchen. Und noch rechtzeitig vor Ladenschluss erreiche ich den Lidl-Parkplatz, die Ladesäule ist noch aktiv. Ladekabel in die Livewire einstecken… Kommunikationsfehler! Nicht schon wieder. Da steckt irgendwo der Wurm drin. Ich ahne schon, was es sein könnte. Bei neu eingeführten E-Fahrzeugen leider keine Seltenheit. Ich breche die Ladeübung ab und fahre gemütlich gegen Hessigkofen. Ja die Reichweite wird weniger, ich hoffe nun das Harley da in der Restreichweitenberechnung keinen Käfer programmiert hat. Nein, es klappt tatsächlich! Schlussendlich komme ich nach über 200 Kilometern noch mit 4% Restkapazität im Akku beim Händler an. Es hat mir einen unglaublichen Spass bereitet, die Livewire testen zu dürfen.

Mein kurzes Fazit

Die Livewire ist im Segment der E-Motorrädern eine tolle Bereicherung. Im oberen Preissegment bietet sie ein perfekt abgestimmtes E-Motorrad mit einer Identität die eben typisch in der Tradition von Harley Davidson steht.
Über Leistungsdaten hier zu diskutieren ist müssig. Es stimmt einfach alles. Als Elektromotorrad ist die Livewire einfach gut, durchdacht und übertrifft sogar die hohe Erwartungen, die ich als erfahrener E-Motorradfahrer anfangs gestellt habe. Das hohe Fahrzeuggewicht fällt beim Fahren nicht negativ auf, könnte aber im Stand für Leute mit kurzen Beinen zu unangenehmen Situationen führen.
Das Fahrwerk ist sportlich abgestimmt, zum Cruisen würde ich die Federung etwas weicher eingestellt bevorzugen.
Was mich aber sehr beeindruckt hat, wie unterwegs die Livewire souverän die Restreichweite kalkuliert. In keinem Moment hatte ich das Gefühl der angegebenen Restreichweite mistrauen zu müssen.
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Man könnte glauben, Harley Davidson baute schon immer Elektromotorräder, so gelungen wirkt die Livewire auf mich. Umso höher ist das Statement von Harley und ihr Bekenntnis zur E-Mobilität mit ihrem Erstlingswerk einzustufen. Ich bin begeistert!

Nachtrag:
Auf der Probefahrt konnte das Schnellladen nicht getestet werden. Der Grund liegt in der Kommunikationskette betreffend Ladestandard CCS. Die Ladestationen identifiziert das zu ladende Fahrzeug anhand der hinterlegten Ladeprotokolle vom Fahrzeughersteller. Wird das Ladeprotokoll nicht gefunden, gibt es keinen Strom. Die beiden Ladeversuche waren an der selben Typ Ladestation von ABB wegen Kommunikationsfehler gescheitert. ABB hat leider schon öfters etwas länger Zeit gebraucht neuen Ladeprotokolle in ihre Stationen zu integrieren.
An der Livewire lag das Ladeproblem definitiv nicht!